Diskussion: Wolfram Lotz «Die lächerliche Finsternis»

Und schließlich, nachdem er eine Stunde lang eher unbeeindruckt wirkte, folgt ein temperamentvolles Plädoyer von Wolfram Lotz. Wörtlich sagt er: «Ich erwarte, dass Sie sehen, nicht, dass Sie gleich verstehen. Das ist das Problem des bürgerlichen Theaters, dass immer alles gleich verstanden werden muss – das heißt aber, dass dann immer nur gesehen werden kann, was sofort verstanden wird. Es geht aber auch um komplexere Zeichen. Es geht darum, mit den eigenen Problemen konfrontiert zu werden und diese sichtbar zu machen. Und natürlich, wenn das geschieht, steht man diesen Problemen ratlos gegenüber. Aber Sie und ich müssen diese Probleme lösen, nicht das bürgerliche Theater, wie es das immer gemacht hat, so geht das nicht. Es geht um den Versuch, dass Sie eine ungeklärte Energie nach diesem Abend in sich mit nach Hause nehmen.»

Auch Pařízek versucht noch zu vermitteln: «Sie blicken durch den Text von Wolfram Lotz auf die Welt. Das Bemerkenswerte dieses Stücks ist, dass es den Ball an Sie zurückspielt. Bei Ihnen selbst beginnt der Prozess der Auseinandersetzung mit der Welt.»

Der ganze Artikel: http://www.theaterheute.de/blog/muelheimstuecke/diskussion-wolfram-lotz-die-lacherliche-finsternis/

Der Weg zur Form

„Wer innerlich unbewegt ist sieht nur das unbewegte in der Welt – die öde und Leere des Daseins. der schöpferisch bewegte Mensch sieht die Welt als Schöpfung, er sieht durch die verfestigte Wirklichkeit die werdende Verwirklichung. Er sieht Form, das heißt: Schönheit.“
– Theophil Spoerri 1954

Vergessen

„Ich hatte alles vergessen. Die Freude, die Schamlosigkeit, die Unbekümmertheit, die Gerüche, die Stille und die berauschenden Augenblicke, die Bilder, die Farben und die Geräusche, den Klang ihrer Stimmen, die Abwesenheit und ihr Lächeln, das Lachen und die Tränen, das Glück und die Ausgelassenheit, die Verachtung und das Bedürfnis nach Liebe, die Lebenslust meiner ersten Jahre. Doch aus dem hintersten Winkel, aus der Kälte der Einsamkeit, taucht die Vergangenheit plötzlich wieder auf. Langsam und schmerzlich gibt sie sich zu erkennen. Wie Fotos, die nichts geworden sind, auf denen die Bewegungen unscharf erscheinen, steigen heute Bilder meiner Erinnerung auf und bersten hinter meinen Mauern in Stücke. Auf den ersten Blick erschien mein ganzes Dasein schal und belanglos. Ich lebte unter Menschen, die mich nicht wahrnahmen und die ich nicht verstand. Ich existierte, weil man mich dazu gezwungen hatte. Meine Geschichte hat in der trügerischen Unschuld begonnen. Und wenn ich mich heute dazu zwinge, meine Erinnerungen Stück für Stück wieder zusammenzusetzen, dann tue ich das deshalb, weil ich inzwischen einen gewissen Abstand gewonnen und erkannt habe, dass sie die Vorzeichen einer unheilbar gewordenen Besessenheit waren. Und das ist das Wagnis, das ich heute eingehe: Ich spreche. Ich tue es aus Scham,  unter einem inneren Zwang, aus Wut, auch weil ich leide. Man schreibt, wie man tötet: Es kommt aus dem Bauch, und dann, ganz plötzlich, bricht es einem aus der Brust. Wie ein Schrei der Verzweiflung.“

– Auszug aus dem Buch „Dich schlafen sehen“ von Anne-Sophie Brasme